Geschwister-Scholl-Preis 2003 - Mark roseman
dankesrede von mark roseman
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Frau von dem Knesebeck, Magnifizenz, mein lieber Imo, lieber Vivian und Sandra Ellenbogen, liebe Freunde, sehr verehrte Damen und Herren, ich darf mich zunächst ganz herzlich bedanken für die Ehre, die mir zuteil wird, und Imo für Deine schönen, sehr bewegenden Worte, über die ich mich mehr als gefreut habe.
Imo, daß Du diese Rede gehalten hast, ist für mich eine ganz
besondere Freude, denn Dein Leben ist ja in vielfacher Hinsicht mit dem von
Marianne verwoben. Du bist in Ahlen/ Westfalen aufgewachsen, einer Kleinstadt,
in der Du als Kind neu zugewanderter, sogenannter Ostjuden die Rosenbergs,
Mariannes mütterliche Großeltern erlebt hast, eine lang etablierte,
wohlhabende deutsch-jüdische Familie. Isaak Rosenberg war angesehener
Kaufmann, Förderer der freiwilligen Feuerwehr, Mitglied des Kyffhäuserbundes.
Marianne Strauß kanntest Du damals nicht, sie ist 1923 in Essen geboren
– damit einige Jahre älter als Du (wir wollen nicht genau sagen
wie viele). Aber sie ist in einem ähnlichen patriotischen alteingesessenen
deutsch-jüdischen Milieu aufgewachsen, wie Du es bei den Rosenbergs
beobachten konntest. Vater und Onkel waren Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg,
der Onkel sogar stolzer Empfänger des Eisenen Kreuzes. Mariannes Eltern
waren bestrebt, ihr eine gute deutsche Bildung zu vermitteln, so dass sie
auch nach 1933 das Mädchenlyzeum, die Luisenschule, und nicht die jüdische
Schule besuchen musste.
Eure Wege hätten sich 1939, nach den Schrecken der Kristallnacht, kreuzen
können. Nach der Gewalt dieser Nacht, bei der Deine Familie die Ausreisepapiere
verlor, Mariannes väterlicher Großvater aufs Schwerste misshandelt
wurde, und Mariannes Vater ein paar Tage später für einige Wochen
nach Dachau verschickt wurde, warst Du mit anderen Ahlener Juden aus der
Stadt vertrieben und kamst nach Essen. Doch mangels anderer Möglichkeiten
setzten Mariannes Eltern weiterhin auf Bildung und schickten Marianne als
15jährige nach Berlin, wo sie eine Ausbildung als Kindergärtnerin
im jüdischen Seminar für Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen
machte – der einzige Lernort für jüdische Mädchen, wo
ein deutsches Staatsexamen noch zu haben war.
Im Jahre 1941 kehrte Marianne als bildschöne, tatkräftige 18jährige nach Essen zurück und verliebte sich in Ernst, der gut aussehende jüngere Sohn eines ehemals wohlhabenden und einflussreichen deutsch-jüdischen Essener Anwaltes, David Krombach. Noch kanntest Du, lieber Imo, Marianne nicht. Aber ein schreckliches Erlebnis verbindet Euch seit April 42, als Ihr beide am Essener Bahnhof zusehen musstet, wie Eure Lieben – Deine Mutter und Ernst Krombach – mit demselben Transport zum polnischen Ghetto, Izbica, deportiert wurden. Der Schriftwechsel, den Marianne und Ernst von April bis August 1942 zwischen Essen und Izbica führen können, ist einzigartig. Dass er existiert, ist zunächst dem Mut und der Initiative der beiden jungen Menschen zu verdanken. Aber im August 1942 können sie auf eine fast unglaublich anmutende Hilfe zählen, die des Wehrmachtssoldaten Christian Arras. Als reklamierter Beschäftigter des väterlichen Essener Lastwagenbetriebs liefert Arras Ersatz für Wehrmachtseinheiten in Polen und bietet Marianne an, Päckchen an die Krombachs mitzunehmen. Aus Izbica zurück bringt er einen 16 Seiten langen unzensierten Brief von Ernst, der als absolut einzigartiges zeitgenössisches Dokument ueber die Bedingungen in den Ghettos der Lubliner Gegend noch existiert. Ich musste staunen, Imo, als ich in Deinen Memoiren las, dass auch Du in Essen demselben Arras begegnet bist, der versucht hat, Dich vor den schrecklichen Bedingungen im Osten zu warnen. Aber Du hast ihn für einen Spion gehalten und der Warnung keinen Glauben geschenkt. Und was hättest Du auch tun können? Leider hat Arras Hilfe auch den Krombachs nicht lange geholfen. In den nächsten Monaten sind alle gestorben oder ermordet worden.
In dieser Zeit lebten Marianne und Du in verschiedenen Welten. Dadurch, daß ihr Vater über seinen Bankier Verbindungen zur Abwehr knüpfen konnte, lebte Mariannes Familie als letzte „volljüdische“ Familie noch in der eigenen Wohnung, obschon unter sehr beschränkten Verhältnissen. Du dagegen warst mit einigen anderen jüngeren noch nicht Deportierten in eine Baracke verwiesen und als Zwangsarbeiter verpflichtet worden. Aber jetzt erlebtest Du Marianne aus näherer Entfernung, eine junge Frau, die rege am Leben in der Baracke teilnimmt und alles unternimmt, um der schrumpfenden Essener Gemeinde zu helfen. Mit Verwunderung stelltest Du fest, daß hier eine junge Frau war, für die die alten Unterschiede zwischen West- und Ostjuden überhaupt keine Rolle spielten, und die sich mit keckem Lebensmut für andere einsetzte.
Dir war wahrscheinlich völlig unbekannt, daß Marianne gleichzeitig Mitglied des Bundes Gemeinschaft für sozialistisches Leben war – keine formale Partei aber eine moralisch-politisch sehr eng verpflichtete Menschengruppe, die sich in den 20er Jahren um den Volkshochschullehrer Artur Jacobs und seine Frau, die Körperbildnerin Dore Jacobs, formiert hatte. Ich hatte das große Glück mit einigen alten Mitgliedern dieser Gruppe sowie einigen engen Freunden aus dem Umkreis Gespräche zu führen. Als ich mir eine Fernsehsendung über Dein Leben anschaute, musste ich wiederum mit Erstaunen feststellen, dass eine dieser Gesprächspartner, die beeindruckende Hannah Jordan, hinterher Deine langjährige Bühnenbildnerin gewesen war.
Anfang 1943 bist Du, lieber Imo, nach Auschwitz deportiert worden, und hier endet die Nähe zu Mariannes Leben, es sein denn, wir nehmen als verbindendes Element den späteren Tod von Mariannes Eltern und Bruder in eben demselben Vernichtungslager. Denn, nachdem der Schutz der Abwehr zusammengebröckelt war, war auch Mariannes Familie an der Reihe. An dem Tag, als die Gestapo die Familie aus der Wohnung für einen Transport abholen wollte, flüchtete Marianne. Nach einem Tag hin und herlaufen in der Stadt nahm sie das Hilfsangebot Artur Jacobs wahr und stellte sich unter die Obhut des Bundes. Mehr als anderthalb Jahre verbrachte sie auf der Flucht, bewegte sich von einem Bundmitglied zum nächsten fort. Getarnt als ein arisches Mädchen mit rötlich gefärbten Haaren, und mit unheimlichem Mut und Selbstbewußtsein ausgestattet, lebte Marianne offen und nicht versteckt. Immer wieder fanden sich Mitglieder des Bundes bereit, sie für ein paar Wochen mit wechselnden Tarngeschichten unterzubringen und zu verpflegen. Nicht nur Marianne, sondern schätzungsweise 8 Personen verdanken dem Bund ihr Leben.
Eure Wege kreuzten sich doch noch einmal – fast. Nach dem Krieg taucht die lebenshungrige Marianne in Düsseldorf auf, und, wie Du lieber Imo, träumte sie von einer Karriere im Theater. Anders als Du fand Marianne den Anschluss zum Düsseldorfer Theater nicht. Sie wurde Kulturkorrespondentin für die Freiheit, schrieb manch beeindruckende Reportage für die BBC, bevor sie sich in Basil Ellenbogen, einen jüdischen Arzt der britischen Besatzungsarmee, verliebte, und schließlich Ende 1946 nach Liverpool zog.
Mariannes Lebensweg zeugt also von der mörderischen Grausamkeit dieser Epoche, aber gleichzeitig von einem ‚anderen Deutschland’, und - mit Ausnahme der Abwehr-Episode - einem anderen Deutschland der kleinen Leute. Artur und Dore Jacobs waren zwar in vielerlei Hinsicht außerordentliche Menschen, aber viele ihrer Anhänger waren relativ normale Leute. Inspiriert durch allgemeine Kant’sche Leitgedanken, gebunden durch ihre Gruppenzugehörigkeit und somit auch immunisiert gegen die Lügen des Nationalsozialismus, schafften sie es, durch kleine mutige Gesten ein (oder mehrere) Leben zu retten. Auch der Wehrmachtssoldat Christian Arras war ein sehr normaler Deutscher, kein Mann der Politik, der aber aus Lebensmut und Freundschaft sehr couragierte Schritte in Izbica und anderswo unternahm. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Geschwister Scholl Preis ist kein reiner Literatur-Preis und ich freue mich deshalb so besonders über diese Auszeichnung, weil ich finde, es hätte für Mariannes Helfer keine treffendere Anerkennung geben können als eine, die an den Mut der Geschwister Scholl erinnert.
Lieber Imo, es gibt doch noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Dir und Marianne. Die meisten Ahlener und Essener Querverbindungen hatte ich nach einigen Tagen des Forschens mit immer größerer Aufregung entdeckt oder zumindest vermutet, bevor ich den Schritt wagte, mit Dir den Kontakt aufzunehmen. Ich zögerte, den Brief an Dich zu schreiben, denn ich wußte aus der Fernsehsendung über Dein Leben, daß Du sehr ungern in die Vergangenheit tauchst. Mir war dieser Unwillen sehr vertraut, weil Marianne Ellenbogen ihn mit Dir teilte: sie sprach äußerst ungern über die Zeit vor ihrer Reise nach England.
At this point I must slip into English for a moment. You ladies and gentlemen have to sit through 5 speeches that at least you understand; spare a thought for Vivian and Sandra Ellenbogen, Marianne’s son and daughter in law, who have to sit here through 5 incomprehensible speeches. I was saying that something that links both Imo Moszkowicz and Marianne was their reluctance to plunge back into the past. For Marianne’s family – Vivian and his sister – the past lay like a silent burden, present but undiscussable on their post-war life. It is only thanks to Vivian’s encouragement to his mother, which helped her overcome her reluctance to talk to me, and afterwards his support for me in providing access to his mother’s papers that this story could be told at all. The challenge of deciding how best to look after Marianne’s interests after her death was not an easy one for a son both wishing to see her life commemorated and mindful of her desire for privacy. Vivian I would just like both to acknowledge my gratitude for your support and to say how pleased I am that you and Sandra are here today. I know you wish me to thank the city of Munich for their generosity in inviting not only myself but also you to today’s events. And that’s the end of the English interlude, Vivian and Sandra, sorry!
Kleine Perlen ihrer Erlebnisse hat Marianne gegenüber Freunden und Verwandten erzählt - aber nur kleine Bruchteile. Auch für mich gab es zu wenig Gespräche vor ihrem Tod, um mehr als nur einen Teil ihres Lebens und Überlebens aufzudecken. So gesehen mußte ich eine versteckte Geschichte und nicht nur eine Geschichte des Versteckens durchforschen. Durch die Aufdeckung immer neuer Quellen nahm die Biographie ein ganz anderes Ausmaß und eine ganz andere Gestalt an, als ursprünglich vorgesehen. Viele dieser Quellen befanden sich bei Marianne in der Wohnung. Wie sich herausstellte, hatte Marianne nichts weggeworfen aber auch nichts katalogisiert und die Papiere waren zerstreut in vielen Ecken und Winkeln des ganzen Hauses. Über diese Akten gelangte ich an viele mir verborgen gebliebene Verwandte, Schulkameraden, Bundmitglieder, ehemalige Beschäftigte des Vaters, an Dich lieber Imo, und andere Zeitgenossen, die das Bild von Mariannes Leben verdichteten und vertieften.
Diese Materialien zeigten – sofern man als Forscher wirklich Glück
hat, und in der Lage ist, sich in die Detektivarbeit zu stürzen –,
dass trotz der Zerstörung, trotz der Verstreuung der Leidensgenossen
und trotz des Verschweigens, manchmal eine Fülle von Spuren und Zeugen
die verborgenen Geschichten noch aufhellen können. (Das war in den 90er
Jahren so – natürlich gibt es mit jedem Jahr weniger Zeugen dieser
Zeit.) Gleichzeitig lernte ich anhand dieser doch so reichhaltigen Quellen,
dass die Schwierigkeit, menschliche Erfahrungen aus dem Dritten Reich und
vor allem aus dem Holocaust zu verstehen, nicht nur darin besteht, den Zeugen über
ihre Sprachlosigkeit zu helfen. Dass sich die meisten von uns – anders
als Du Imo - kaum vorstellen können, was sich hinter den Toren von Auschwitz
abspielte, ist Gemeinplatz. Aber auch jenseits von solchen einzigartigen
Planeten des Mordens und des Terrors ist das Problem des Vermittelns und
Verstehens nicht einfach.
Es zeigte sich zum Beispiel, daß manche von Mariannes anscheinend eindringlichsten
Erinnerungen nicht so verlaufen sind, wie sie meinte. Durch vergleichende
Detektivarbeit stellte es sich heraus, dass sie mal Erinnerungen von anderen
geborgt, mal ihren eigenen andere Wendungen gegeben hatte. Es wurde mir klar,
dass traumatische Erinnerungen nicht nur durch Verschweigen bewältigt
werden mussten und dass das, was ich von ihr gehört hatte, manchmal
eher Zeichen eines Bewältigungsprozesses denn eine direkte Wiedergabe
des damals Erlebten war.
Dies war eine Frage des Gedächtnisses, doch die schriftlichen Überlieferungen
sind genauso schwer zu deuten. Wenn im Jahre 1941/42 junge jüdische
Liebhaber in Briefen zwischen Berlin und Essen einander Mut geben wollen
und womöglich auch an die Zensur denken, inwieweit darf man dann als
späterer Leser ihrem leichten Übersehen der Strapazen der Verfolgung
Glauben schenken? Das Dritte Reich– um die Weltall-Metapher weiter
zu strapazieren – ist gewissermaßen ein dunkler Stern –
alles Licht, das hinausdrängt, ob erzählt oder geschrieben, ist
irgendwie krumm.
Denn die Bedingungen, unter denen Erfahrungen damals gesammelt oder
Briefe geschrieben wurden, liegen soweit weg. Und diese Entfernung entsteht
nicht nur für uns als Außenstehende: wie viele ihrer jüdischen
(und zum Teil auch nichtjüdischen) Zeitgenossen erfuhr Marianne radikale
Diskontinuitäten in ihren Lebensumständen. Das Mädchen einer
bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie der 20er und frühen
30er Jahre, lebte, beobachte, dachte in einer völlig anderen Welt, als
die Überlebenskämpferin der Kriegszeit, oder die englisch-jüdische
Hausfrau in den Jahrzehnten nach dem Krieg. In meinen Gesprächen mit
Marianne habe ich nicht ohne weiteres die früheren Ichs’ vernommen,
die ich dann später in Briefen und Tagebüchern aufdeckte. Das ist,
könnte man meinen, bei allen Menschen in allen Zeiten so; nur sind die
Brüche im Leben hier besonders scharf konturiert. Manche von Mariannes
Jugendkameraden gingen nach Palästina, manche in englischsprachige Länder
oder nach Südamerika. Die Nichtjuden blieben in Deutschland. Nach dem
Krieg, das konnte ich auch am Beispiel der Erinnerungen an ihre Schulzeit
zeigen, entstanden sehr unterschiedliche Erinnerungsgemeinschaften
– bedingt durch das jähe Auseinandertreiben der einst gemeinsamen
Generation. Hier also gab es Unterschiede der Erinnerungen und der Sichtweise,
die es zu entschlüsseln galt.
Auch für die Mitglieder des Bundes hat es sich als überaus schwierig erwiesen ihre Erfahrungen und das, was sie geleistet haben, der Nachkriegswelt verständlich zu machen. Die ‚gebrannten Kinder’, unter denen der Bund vergeblich nach 1945 Nachwuchs suchte, respektierten die Leistungen, wollten aber keine lebensreformerische Schwärmerei, kein Kantsches Suchen nach den Flammen des Geistes. Paradoxerweise hat das Scheitern des Dritten Reichs dem Bund den politischen Boden entzogen: die Sprache der Politik war nüchterner und anders geworden. Hinzu kam, daß im Gegensatz zu den Geschwistern Scholl die Bundmitglieder glücklicherweise keine Märtyrer geworden sind. Sie konnten keine großen Opfer zeigen, sie hatten anders als der französische Widerstand keine Brücken gesprengt oder Waffen getragen. Sie sahen nicht einmal aus, wie eine anständige Widerstandsgruppe. Da waren lauter Frauen, die Körperbildung machten. Sie hatten das getan, was im Rahmen des Dritten Reichs möglich war, nämlich mit Hilfe eines losen Netzwerkes von bis zu 100 Menschen einige wenige Leute am Leben gehalten. Das war viel – aber es war nicht der Stoff, aus dem man Nachkriegslegenden bilden konnte. Auch hier erwies es sich also als schwierig, Lebenserfahrungen und Leistungen aus der Zeit des Dritten Reiches über die Schwelle der Nachkriegszeit hinüberzubringen.
Diese Hinweise auf die Herausforderungen der Kommunikation werden Ihnen,
meine Damen und Herren, vielleicht ein wenig seltsam wirken. Denn auf der
einen Seite werden Sie nach fünf Reden sicherlich der Meinung sein,
dass die Herausforderung des Zuhörens und des Festsitzens jetzt die
eigentlichen Themen sein müssten. Aber im Ernst wird man sicherlich
anmerken wollen, dass wir mehr wissen, mehr gelesen, mehr erfahren haben
über das Dritte Reich als über jede andere Epoche menschlicher
Geschichte. Denn in einem Punkt möchte ich dem inzwischen nicht nur
in Militärkreisen berühmten Herrn Hohmann Recht geben. Deutschland
ist wirklich das Land, das sich am intensivsten mit den Schattenseiten seiner
Geschichte beschäftigt hat. Deutschland hatte kaum eine andere Wahl:
die Schatten streckten sich so lang und so dunkel über den Boden. Dennoch
hat sich zunächst zögernd, oft von außen geschubst, vor allem
die Bundesrepublik auf beeindruckende Art und Weise seine schwierige Erbschaft
geprüft, justiziell untersucht, erforscht, anerkannt, und
„wiedergutgemacht“. Das muss man anerkennen; und die Existenz
von diesem Preis ist ein Zeugnis dieser Offenheit gegenüber der eigenen
Geschichte.
Gleichzeitig gibt es die Gefahr, dass durch das bloße Wiederholen bekannter
Dinge Inhalte verloren gehen und möglicherweise auch jüngere Generationen
abgestoßen werden. Der Bund musste nach 1945 die schmerzliche Erfahrung
machen, dass man bei noch so schönen Beteuerungen Zuhörer verprellte,
wenn man keine Sprache und Sichtweise fand, die sie ansprach und echt wirkte.
Und daher ist der Kampf um Authentizität, das Aufzeigen der vielen Schattierungen
bei Einstellungen und Verhaltensmustern, aber auch das lebendige Plastisch-Machen
der Schwierigkeiten dieses Kampfes und der Grenzen dessen, was eindeutig
bestimmt werden kann, notwendig, wenn man die Erinnerung wach halten und
nicht auf Pflichtlektüre und Sonntagsreden schrumpfen lassen will.
In diesem Zusammenhang möchte ich schließlich noch einige Dankesworte
äußern. Wie gesagt wollte ich durch die etwas ungewöhnliche
Erzählform dieses Buches nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern
auch die Aufdeckung einer Geschichte unter den schwierigen Umständen
der Nach-Holocaust-Zeit transparent machen, und dadurch die Geschichte des
Erinnerns und Vergessens ebenfalls erzählen. Ich hoffte damit, sowohl
zur wissenschaftlichen Diskussion beizutragen als auch ein breiteres Publikum
zu erreichen. Das Vorhaben, unterschiedliche Leserkreise für ein Kommunizieren
über das Nichtkommunizieren zu interessieren, verlangte von meinem Verlag,
Penguin, Mut und ich möchte meinem Editor, Simon Winder, sowie meinem
Agenten, Peter Robinson ganz herzlich danken. Was ich nicht vorhergesehen
hatte, war, welch große Herausforderung dieses Projekt für eine
Übersetzung darstellen würde. In Deutschland war die Aufgabe ausgesprochen
schwierig, denn zum bestimmenden Merkmal der Wissenschaft gehört ja
die Forderung, eine vom Alltag abgehobene Sprache zu verwenden. Unter diesen
Bedingungen sowohl authentische Autorenstimme aber auch die Sprachlosigkeit
wiedergeben zu können, stringent und zugänglich zu bleiben, eine
Art von Lockerheit zu finden ohne unseriös zu wirken, war keine leichte
Sache. Meine damalige Lektorin beim Aufbau Verlag Annette Anton, meine Übersetzerin
Astrid Becker, und meine deutsche Agentin Ursula Bender von Agence Hoffman,
die erfreulicherweise heute Abend hier sind, werden sich ein leichtes Schmunzeln
erlauben, wenn ich sage, dass die Übertragung dieses Buches ins Deutsche
demnach kein leichtes Unterfangen war. Allein der Schriftwechsel per E-Mail
über den Titel hat das Internet zum Stillstand gebracht. Umso mehr möchte
ich Annette, Astrid und Ursula, und dem Aufbau Verlag zum Schluss herzlichst
dafür danken, dass Sie mir den Weg in die deutsche Sprache und in den
deutschen Leserkreis eingeebnet haben.
Mark Roseman, München 24.11.2003
Prof. Mark Roseman war Professor für Neuere Geschichte an der Universität von Southhampton. Seit 2004 forscht er an der Indiana Universität in Bloomington/USA.
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